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1000
Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe, Band 6
Erstes Buch
Am 4. Mai 1771
Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz
des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich
unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir's.
Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal,
um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch
war ich unschuldig. Konnt' ich dafür, daß, während die eigensinnigen
Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften,
daß eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch--bin
ich ganz unschuldig? Hab' ich nicht ihre Empfindungen genährt? Hab'
ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur, die uns so oft
zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergetzt?
Hab' ich nicht--o was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf!
Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich bessern,
will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt,
wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtige
genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, du hast
recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie
nicht--Gott weiß, warum sie so gemacht sind!--mit so viel Emsigkeit
der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des
vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart
zu ertragen.
Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, daß ich ihr Geschäft bestens
betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine
Tante gesprochen und bei weitem das böse Weib nicht gefunden, das man
bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere, heftige Frau von dem
besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter Beschwerden über den
zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre Gründe, Ursachen
und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre, alles
herauszugeben, und mehr als wir verlangten--kurz, ich mag jetzt nichts
davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und
ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden,
daß Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt
machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren
gewiß seltener.
Übrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem
Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese
Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz.
Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum
Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und
alle seine Nahrung darin finden zu können.
Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine
unaussprechliche Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen
Grafen von M., einen Garten auf einem der Hügel anzulegen, die mit der
schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Täler
bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich bei dem
Eintritte, daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein
fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen
wollte. Schon manche Träne hab' ich dem Abgeschiedenen in dem
verfallenen Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war und
auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist
mir zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht übel
dabei befinden.
Am 10. Mai
Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich
den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin
allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche
Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein
Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine
Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen
Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen
Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne
an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht,
und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich
dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde
tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das
Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen,
unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem
Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach
seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne
schwebend trägt und erhält; mein Freund! Wenn's dann um meine Augen
dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele
ruhn wie die Gestalt einer Geliebten--dann sehne ich mich oft und
denke : ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere
das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der
Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen
Gottes!--mein Freund--aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege
unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.
Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder
ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles
rings umher so paradiesisch macht. Das ist gleich vor dem Orte ein
Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren
Schwestern.--Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest dich
vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das
klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben
umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher
bedecken, die Kühle des Orts; das hat alles so was Anzügliches, was
Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da
sitze. Da kommen die Mädchen aus der Stadt und holen Wasser, das
harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die Töchter der
Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die
patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die Altväter,
am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen und
Quellen wohltätige Geister schweben. O der muß nie nach einer
schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben,
der das nicht mitempfinden kann.
Am 13. Mai
Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst?--lieber, ich bitte
dich um Gottes willen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug
aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner
Fülle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull' ich mein empörtes Blut
zur Ruhe, denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses
Herz. Lieber! Brauch' ich dir das zu sagen, der du so oft die Last
getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer
Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehn? Auch
halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm
gestattet. Sage das nicht weiter; es gibt Leute, die mir es verübeln
würden.
Am 15. Mai
Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich,
besonders die Kinder. Eine traurige Bemerkung hab' ich gemacht. Wie
ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte
über dies und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten, und
fertigten mich wohl gar grob ab. Ich ließ mich das nicht verdrießen;
nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste :
Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom
gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch Annäherung zu verlieren;
und dann gibt's Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die sich herabzulassen
scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto empfindlicher zu
machen.
Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich sind, noch sein können; aber ich
halte dafür, daß der, der nötig zu haben glaubt, vom so genannten
Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu erhalten, ebenso tadelhaft
ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt, weil er zu
unterliegen fürchtet.
Letzthin kam ich zum Brunnen und fand ein junges Dienstmädchen, das
ihr Gefäß auf die unterste Treppe gesetzt hatte und sich umsah, ob
keine Kamerädin kommen wollte, ihr es auf den Kopf zu helfen. Ich
stieg hinunter und sah sie an.--"Soll ich Ihr helfen, Jungfer?" sagte
ich.--sie ward rot über und über.--"O nein, Herr!" sagte sie.--"Ohne
Umstände".--sie legte ihren Kragen zurecht, und ich half ihr. Sie
dankte und stieg hinauf.
Den 17. Mai
Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch
keine gefunden. Ich weiß nicht, was ich Anzügliches für die Menschen
haben muß; es mögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich, und
da tut mir's weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke miteinander
geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind, muß ich dir sagen: wie
überall! Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die
meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das
bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie
alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!
Aber eine recht gute Art Volks! Wenn ich mich manchmal vergesse,
manchmal mit ihnen die Freuden genieße, die den Menschen noch gewährt
sind, an einem artig besetzten Tisch mit aller Offen--und
Treuherzigkeit sich herumzuspaßen, eine Spazierfahrt, einen Tanz zur
rechten Zeit anzuordnen, und dergleichen, das tut eine ganz gute
Wirkung auf mich; nur muß mir nicht einfallen, daß noch so viele
andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich
sorgfältig verbergen muß. Ach das engt das ganze Herz so ein.--Und
doch! Mißverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.
Ach, daß die Freundin meiner Jugend dahin ist, ach, daß ich sie je
gekannt habe!--ich würde sagen: du bist ein Tor! Du suchst, was
hienieden nicht zu finden ist! Aber ich habe sie gehabt, ich habe das
Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr
zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter
Gott! Blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? Konnt' ich
nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein
Herz die Natur umfaßt? War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von
der feinsten Empfindung, dem schärfsten Witze, dessen Modifikationen,
bis zur Unart, alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und
nun!--ach ihre Jahre, die sie voraus hatte, führten sie früher ans
Grab als mich. Nie werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und
ihre göttliche Duldung.
Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V. an, einen offnen Jungen, mit
einer gar glücklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien
dünkt sich eben nicht weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als
andere. Auch war er fleißig, wie ich an allerlei spüre, kurz, er hat
hübsche Kenntnisse. Da er hörte, daß ich viel zeichnete und
Griechisch könnte (zwei Meteore hierzulande), wandte er sich an mich
und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu
Winckelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den ersten
Teil, ganz durchgelesen und besitze ein Manuskript von Heynen über das
Studium der Antike. Ich ließ das gut sein.
Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den fürstlichen
Amtmann, einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine
Seelenfreude sein, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun
hat; besonders macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter. Er
hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er
wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier,
wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da
ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause zu weh tat.
Sonst sind mir einige verzerrte Originale in den Weg gelaufen, an
denen alles unausstehlich ist, am unerträglichsten
Freundschaftsbezeigungen.
Leb' wohl! Der Brief wird dir recht sein, er ist ganz historisch.
Am 22. Mai
Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sei, ist manchem schon so
vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn
ich die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden
Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle
Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu
verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz
zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des
Nachforschens nur eine träumende Regignation ist, da man sich die
Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und
lichten Aussichten bemalt--das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich
kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in
Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft.
Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so
träumend weiter in die Welt.
Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darin sind alle
hochgelahrten Schul--und Hofmeister einig; daß aber auch Erwachsene
gleich Kindern auf diesem Erdboden herumtaumeln und wie jene nicht
wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, ebensowenig nach wahren
Zwecken handeln, ebenso durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser
regiert werden: das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man
kann es mit Händen greifen.
Ich gestehe dir gern, denn ich weiß, was du mir hierauf sagen möchtest,
daß diejenigen die Glücklichsten sind, die gleich den Kindern in den
Tag hinein leben, ihre Puppen herumschleppen, aus--und anziehen und
mit großem Respekt um die Schublade umherschleichen, wo Mama das
Zuckerbrot hineingeschlossen hat, und, wenn sie das gewünschte endlich
erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und rufen:"mehr!"--das sind
glückliche Geschöpfe. Auch denen ist's wohl, die ihren
Lumpenbeschäftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften prächtige
Titel geben und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu
dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben.--Wohl dem, der so sein kann!
Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinausläuft, wer da
sieht, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum
Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche
unter der Bürde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert
sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn--ja, der
ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch
glücklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist,
hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und daß er
diesen Kerker verlassen kann, wann er will.
Am 26. Mai
Du kennst von alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend an
einem vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuschlagen und da mit aller
Einschränkung zu herbergen. Auch hier habe ich wieder ein Plätzchen
angetroffen, das mich angezogen hat.
Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim
nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man
oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man auf einmal
das ganze Tal. Eine gute Wirtin, die gefällig und munter in ihrem
Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was über alles geht, sind
zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten [sten den kleinen Platz vor
der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhäusern, Scheunen und Höfen
eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab' ich nicht leicht
ein Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus dem
Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese
meinen Homer. Das erstenmal, als ich durch einen Zufall an einem
schönen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plätzchen so
einsam. Es war alles im Felde; nur ein Knabe von ungefähr vier Jahren
saß an der Erde und hielt ein anderes, etwa halbjähriges, vor ihm
zwischen seinen Füßen sitzendes Kind mit beiden Armen wider seine
Brust, so daß er ihm zu einer Art von Sessel diente und ungeachtet der
Munterkeit, womit er aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz
ruhig saß. Mich vergnügte der Anblick: ich setzte mich auf einen
Pflug, der gegenüber stand, und zeichnete die brüderliche Stellung mit
vielem Ergetzen. Ich fügte den nächsten Zaun, ein Scheunentor und
einige gebrochene Wagenräder bei, alles, wie es hinter einander stand,
und fand nach Verlauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete, sehr
interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das mindeste von dem
Meinen hinzuzutun. Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich
künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich,
und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der
Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen
Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird
nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der
sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher
Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber
auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur
und den wahren Ausdruck derselben zerstören! Sag' du: 'das ist zu
hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben' etc.--guter
Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der
Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle
Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, all
sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz
ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem
öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: 'feiner junger Herr!
Lieben ist menschlich, nur müßt Ihr menschlich lieben! Teilet Eure
Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet
Eurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer
Notdurft übrig bleibt, davon verwehr' ich Euch nicht, ihr ein Geschenk,
nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts--und Namenstage '
etc.--folgt der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen,
und ich will selbst jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium zu
setzen; nur mit seiner Liebe ist's am Ende und, wenn er ein Künstler
ist, mit seiner Kunst. O meine Freunde! Warum der Strom des Genies
so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure
staunende Seele erschüttert?--liebe Freunde, da wohnen die gelassenen
Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen,
Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen würden, die daher in Zeiten
mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.
Am 27. Mai
Ich bin, wie ich sehe, in Verzückung, Gleichnisse und Deklamation
verfallen und habe darüber vergessen, dir auszuerzählen, was mit den
Kindern weiter geworden ist. Ich saß, ganz in malerische Empfindung
vertieft, die dir mein gestriges Blatt sehr zerstückt darlegt, auf
meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau
auf die Kinder los, die sich indes nicht gerührt hatten, mit einem
Körbchen am Arm und ruft von weitem: "Philipps, du bist recht brav".
--Sie grüßte mich, ich dankte ihr, stand auf, trat näher hin und
fragte sie, ob sie Mutter von den Kindern wäre? Sie bejahte es, und
indem sie dem ältesten einen halben Weck gab, nahm sie das kleine auf
und küßte es mit aller mütterlichen Liebe.--"ich habe", sagte sie,
"meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem
Ältesten in die Stadt gegangen, um weiß Brot zu holen und Zucker und
ein irden Breipfännchen".--Ich sah das alles in dem Korbe, dessen
Deckel abgefallen war.--"Ich will meinem Hans (das war der Name des
Jüngsten) ein Süppchen kochen zum Abende; der lose Vogel, der Große,
hat mir gestern das Pfännchen zerbrochen, als er sich mit Philippsen
um die Scharre des Breis zankte".--ich fragte nach dem Ältesten, und
sie hatte mir kaum gesagt, daß er sich auf der Wiese mit ein paar
Gänsen herumjage, als er gesprungen kam und dem Zweiten eine
Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt mich weiter mit dem Weibe und
erfuhr, daß sie des Schulmeisters Tochter sei, und daß ihr Mann eine
Reise in die Schweiz gemacht habe, um die Erbschaft eines Vetters zu
holen.--"Sie haben ihn drum betriegen wollen", sagte sie,"und ihm auf
seine Briefe nicht geantwortet; da ist er selbst hineingegangen. Wenn
ihm nur kein Unglück widerfahren ist, ich höre nichts von ihm".--Es
ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu machen, gab jedem der
Kinder einen Kreuzer, und auch fürs jüngste gab ich ihr einen, ihm
einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie in die Stadt ginge, und so
schieden wir von einander.
Ich sage dir, mein Schatz, wenn meine Sinne gar nicht mehr halten
wollen, so lindert all den Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfs,
das in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins hingeht,
von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht
und nichts dabei denkt, als daß der Winter kommt.
Seit der Zeit bin ich oft draußen. Die Kinder sind ganz an mich
gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn ich Kaffee trinke, und teilen das
Butterbrot und die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags fehlt
ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betstunde da bin,
so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen.
Sie sind vertraut, erzählen mir allerhand, und besonders ergetze ich
mich an ihren Leidenschaften und simpeln Ausbrüchen des Begehrens,
wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich versammeln.
Viele Mühe hat mich's gekostet, der Mutter ihre Besorgnis zu nehmen,
sie möchten den Herrn inkommodieren.
Am 30. Mai
Was ich dir neulich von der Malerei sagte, gilt gewiß auch von der
Dichtkunst; es ist nur, daß man das Vortreffliche erkenne und es
auszusprechen wage, und das ist freilich mit wenigem viel gesagt. Ich
habe heute eine Szene gehabt, die, rein abgeschrieben, die schönste
Idylle von der Welt gäbe; doch was soll Dichtung, Szene und Idylle?
Muß es denn immer gebosselt sein, wenn wir teil an einer
Naturerscheinung nehmen sollen?
Wenn du auf diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes erwartest, so bist
du wieder übel betrogen; es ist nichts als ein Bauerbursch, der mich
zu dieser lebhaften Teilnehmung hingerissen hat. Ich werde, wie
gewöhnlich, schlecht erzählen, und du wirst mich, wie gewöhnlich,
denk' ich, übertrieben finden; es ist wieder Wahlheim, und immer
Wahlheim, das diese Seltenheiten hervorbringt.
Es war eine Gesellschaft draußen unter den Linden, Kaffee zu trinken.
Weil sie mir nicht ganz anstand, so blieb ich unter einem Vorwande
zurück.
Ein Bauerbursch kam aus einem benachbarten Hause und beschäftigte sich,
an dem Pfluge, den ich neulich gezeichnet hatte, etwas zurecht zu
machen. Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn an, fragte nach
seinen Umständen, wir waren bald bekannt und, wie mir's gewöhnlich mit
dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er erzählte mir, daß er bei
einer Witwe in Diensten sei und von ihr gar wohl gehalten werde. Er
sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, daß ich bald merken
konnte, er sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei nicht mehr
jung, sagte er, sie sei von ihrem ersten Mann übel gehalten worden,
wolle nicht mehr heiraten, und aus seiner Erzählung leuchtete so
merklich hervor, wie schön, wie reizend sie für ihn sei, wie sehr er
wünschte, daß sie ihn wählen möchte, um das Andenken der Fehler ihres
ersten Mannes auszulöschen, daß ich Wort für Wort wiederholen müßte,
um dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen
anschaulich zu machen. Ja, ich müßte die Gabe des größten Dichters
besitzen, um dir zugleich den Ausdruck seiner Gebärden, die Harmonie
seiner Stimme, das heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen
zu können. Nein, es sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in
seinem ganzen Wesen und Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich
wieder vorbringen könnte. Besonders rührte mich, wie er fürchtete,
ich möchte über sein Verhältnis zu ihr ungleich denken und an ihrer
guten Aufführung zweifeln. Wie reizend es war, wenn er von ihrer
Gestalt, von ihrem Körper sprach, der ihn ohne jugendliche Reize
gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in meiner
innersten Seele wiederholen. Ich hab' in meinem Leben die dringende
Begierde und das heiße, sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit
gesehen, ja wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und
geträumt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß bei der
Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glüht,
und daß mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt,
und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte.
Ich will nun suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder vielmehr, wenn
ich's recht bedenke, ich will's vermeiden. Es ist besser, ich sehe
sie durch die Augen ihres Liebhabers; vielleicht erscheint sie mir vor
meinen eigenen Augen nicht so, wie sie jetzt vor mir steht, und warum
soll ich mir das schöne Bild verderben?
Am 16. Junius
Warum ich dir nicht schreibe?--Fragst du das und bist doch auch der
Gelehrten einer. Du solltest raten, daß ich mich wohl befinde, und
zwar--kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz
näher angeht. Ich habe--ich weiß nicht.
Dir in der Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen ist, daß ich eins der
liebenswürdigsten Geschöpfe habe kennen lernen, wird schwer halten.
Ich bin vergnügt und glücklich, und also kein guter Historienschreiber.
Einen Engel!--pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und
doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist,
warum sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn
gefangengenommen.
So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel
Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der
Tätigkeit.--Das ist alles garstiges Gewäsch, was ich da von ihr sage,
leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdrücken.
Ein andermal--nein, nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir's
erzählen. Tu' ich 's jetzt nicht, so geschäh' es niemals. Denn,
unter uns, seit ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon
dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu
lassen und hinauszureiten. Und doch schwur ich mir heute früh, nicht
hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick' ans Fenster, zu sehen,
wie hoch die Sonne noch steht.--Ich hab's nicht überwinden können,
ich mußte zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein
Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das für
meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer
acht Geschwister, zu sehen!--Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende
so klug sein wie am Anfange. Höre denn, ich will mich zwingen, ins
Detail zu gehen.
Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen,
und wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder
vielmehr seinem kleinen Königreiche zu besuchen. Ich vernachlässigte
das, und wäre vielleicht nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht
den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem
ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten,
schönen, übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde
ausgemacht, daß ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer
Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege
Charlotten S. mitnehmen sollte.--"Sie werden ein schönes Frauenzimmer
kennenlernen", sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten,
ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren.--"Nehmen Sie sich in
acht", versetzte die Base, "daß Sie sich nicht verlieben!"--"Wieso?"
sagte ich.--"Sie ist schon vergeben,"antwortete jene,"an einen sehr
braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen,
weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung
zu bewerben".--Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem
Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten
ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen,
dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich
täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst
zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen
Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich
ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die
vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir
das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in
dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein
Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes
Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt
ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein
Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit
solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein "danke!",
indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte,
ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt
entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen
davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen,
darin ihre Lotte wegfahren sollte.--"Ich bitte um Vergebung", sagte
sie, "daß ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse.
Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner
Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben,
und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir".
Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte
auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich
von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre
Handschuhe und den Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger
Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das
ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich
zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte:"Louis, gib dem
Herrn Vetter eine Hand".--das tat der Knabe sehr freimütig, und ich
konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen
Rotznäschens, herzlich zu küssen.
"Vetter?" sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte," glauben Sie, daß
ich des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?"--"O", sagte sie
mit einem leichtfertigen Lächeln, "unsere Vetterschaft ist sehr
weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein
sollten".--Im Gehen gab sie Sophien, der ältesten Schwester nach ihr,
einem Mädchen von ungefähr elf Jahren, den Auftrag, wohl auf die
Kinder acht zu haben und den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritte
nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester
Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre, das denn auch einige
ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von
ungefähr sechs Jahren, sagte: "du bist's doch nicht, Lottchen, wir
haben dich doch lieber".--die zwei ältesten Knaben waren hinten auf
die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis
vor den Wald mitzufahren, wenn sie versprächen, sich nicht zu necken
und sich recht festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt,
wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die Hüte ihre
Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig
durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder
herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten, das
denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von fünfzehn
Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn
tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich
geschickt hätte.--"nein", sagte Lotte,"es gefällt mir nicht, Sie
können's wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser".--Ich
erstaunte, als ich fragte, was es für Bücher wären, und sie mir
antwortete:--ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich
sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren
Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu
entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, daß ich sie verstand.
"Wie ich jünger war", sagte sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane.
Weiß Gott, wie wohl mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein
Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer
Miß Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, daß die Art noch
einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme,
so muß es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist
mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht
wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und
herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein
Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit
ist".
Ich bemühte mich, meine Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das
ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im
Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield, vom--reden hörte, kam ich
ganz außer mich, sagte ihr alles, was ich mußte, und bemerkte erst
nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch an die anderen wendete, daß
diese die Zeit über mit offenen Augen, als säßen sie nicht da,
dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal mit einem
spöttischen Näschen an, daran mir aber nichts gelegen war.
Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze.--"wenn diese Leidenschaft
ein Fehler ist,"sagte Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir
nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf
meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles
wieder gut".
Wie ich mich unter dem Gespäche in den schwarzen Augen weidete--wie
die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze
Seele anzogen--wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz
versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich
ausdrückte--davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz,
ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause
stille hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt
verloren, daß ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem
erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N.--wer behält alle die
Namen--, die der Base und Lottens Tänzer waren, empfingen uns am
Schlage, bemächtigten sich ihrer Frauenzimmer, und ich führte das
meinige hinauf.
Wir schlangen uns in Menuetts um einander herum; ich forderte ein
Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten
nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen.
Lotte und ihr Tänzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir's
war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du
fühlen. Tanzen muß man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem
Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so
sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn
sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem Augenblicke gewiß
schwindet alles andere vor ihr.
Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mit den dritten zu,
und mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt versicherte
sie mir, daß sie herzlich gern deutsch tanze.--"Es ist hier so Mode,
"fuhr sie fort," daß jedes Paar, das zusammen gehört, beim Deutschen
zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt schlecht und dankt mir's, wenn
ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann's auch nicht und
mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, daß Sie gut walzen;
wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen Sie und bitten
sich's von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen".--ich
gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, daß ihr Tänzer
inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.
Nun ging's an, und wir ergetzten uns eine Weile an manigfaltigen
Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit
bewegte sie sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und wie die
Sphären um einander herumrollten, ging's freilich anfangs, weil's die
wenigsten können, ein bißchen bunt durcheinander. Wir waren klug und
ließen sie austoben, und als die Ungeschicktesten den Plan geräumt
hatten, fielen wir ein und hielten mit noch einem Paare, mit Audran
und seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist mir's so leicht vom Flecke
gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in
den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles
rings umher verging, und--Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber
doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich
Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit mir,
und wenn ich drüber zugrunde gehen müßte. Du verstehst mich!
Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann
setzte sie sich, und die Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die
nun die einzigen noch übrigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur
daß mir mit jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin
ehrenhalben zuteilte, ein Stich durchs Herz ging.
Beim dritten englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie wir die
Reihe durchtanzten und ich, weiß Gott mit wieviel Wonne, an ihrem Arm
und Auge hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des offensten, reinsten
Vergnügens war, kommen wir an eine Frau, die mit wegen ihrer
liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte
merkwürdig gewesen war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt einen
drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im
Vorbeifliegen mit viel Bedeutung.
"Wer ist Albert?" sagte ich zu Lotten, "wenn's nicht Vermessenheit
ist zu fragen".--Sie war im Begriff zu antworten, als wir uns scheiden
mußten, um die große Achte zu machen, und mich dünkte einiges
Nachdenken auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so vor einander
vorbeikreuzten.--"Was soll ich's Ihnen leugnen," sagte sie, indem sie
mir die Hand zur Promenade bot. "Albert ist ein braver Mensch, dem
ich so gut als verlobt bin".--nun war mir das nichts Neues (denn die
Mädchen hatten mir's auf dem Wege gesagt) und war mir doch so ganz neu,
weil ich es noch nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenig
Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich
verwirrte mich, vergaß mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein,
daß alles drunter und drüber ging und Lottens ganze Gegenwart und
Zerren und Ziehen nötig war, um es schnell wieder in Ordnung zu
bringen.
Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon lange
am Horizonte leuchten gesehn und die ich immer für Wetterkühlen
ausgegeben hatte, viel stärker zu werden anfingen und der Donner die
Musik überstimmte. Drei Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre
Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein, und die Musik hörte auf.
Es ist natürlich, wenn uns ein Unglück oder etwas Schreckliches im
Vergnügen überrascht, daß es stärkere Eindrücke auf uns macht als
sonst, teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft empfinden läßt,
teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der Fühlbarkeit
geöffnet sind und also desto schneller einen Eindruck annehmen.
Diesen Ursachen muß ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben, in die
ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in
eine Ecke, mit dem Rücken gegen vor ihr nieder und verbarg den Kopf in
der erster Schoß. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und
umfaßte ihre Schwesterchen mit tausend Tränen. Einige wollten nach
Hause; andere, die noch weniger wußten, was sie taten, hatten nicht so
viel Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen Schlucker zu
steuern, die sehr beschäftigt zu sein schienen, alle die ängstlichen
Gebete, die dem Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schönen
Bedrängten wegzufangen. Einige unserer Herren hatten sich
hinabbegeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die übrige
Gesellschaft schlug es nicht aus, als die Wirtin auf den klugen
Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Läden und Vorhänge hätte.
Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschäftigt war, einen Kreis
von Stühlen zu stellen und, als sich die Gesellschaft auf ihre Bitte
gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
Ich sah manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand sein Mäulchen
spitzte und seine Glieder reckte.--"Wir spielen Zählens!" sagte sie.
"Nun gebt acht! Ich geh' im Kreise herum von der Rechten zur Linken,
und so zählt ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt,
und das muß gehen wie ein Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt,
kriegt eine Ohrfeige, und so bis tausend".--nun war das lustig
anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm im Kreise herum. "Eins",
fing der erste an, der Nachbar "zwei", "drei" der folgende, und so
fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer geschwinder; da
versah's einer: Patsch! Eine Ohrfeige, und über das Gelächter der
folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst kriegte
zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken, daß
sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein
allgemeines Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das
Tausend ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite,
das Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal.
Unterwegs sagte sie:"über die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles
vergessen!"--ich konnte ihr nichts antworten.--"ich war", fuhr sie
fort, "eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um
den andern Mut zu geben, bin ich mutig geworden".--Wir traten ans
Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte
auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle
einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt,
ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich
sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte:
"Klopstock!"--Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr
in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie
in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug's nicht, neigte mich
auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah
nach ihrem Auge wieder--Edler! Hättest du deine Vergötterung in
diesem Blicke gesehen, und möcht' ich nun deinen so oft entweihten
Namen nie wieder nennen hören!
Am 19. Junius
Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben bin, weiß ich nicht mehr;
das weiß ich, daß es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam,
und daß, wenn ich dir hätte vorschwatzen können, statt zu schreiben,
ich dich vielleicht bis an den Morgen aufgehalten hätte.
Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich noch
nicht erzählt, habe auch heute keinen Tag dazu.
Es war der herrlichste Sonnenaufgang. Der tröpfelnde Wald und das
erfrischte Feld umher! Unsere Gesellschafterinnen nickten ein. Sie
fragte mich, ob ich nicht auch von der Partie sein wollte; ihretwegen
sollt' ich unbekümmert sein.--"So lange ich diese Augen offen sehe",
sagte ich und sah sie fest an,"so lange hat's keine Gefahr".--Und wir
haben beide ausgehalten bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise
aufmachte und auf ihr Fragen versicherte, daß Vater und Kleine wohl
seien und alle noch schliefen. Da verließ ich sie mit der Bitte, sie
selbigen Tags noch sehen zu dürfen; sie gestand mir's zu, und ich bin
gekommen--und seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre
Wirtschaft treiben, ich weiß weder daß Tag noch daß Nacht ist, und die
ganze Welt verliert sich um mich her.
Am 21. Junius
Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen ausspart;
und mit mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, daß ich die
Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe.--du
kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig etabliert, von da habe ich
nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl' ich mich selbst und alles
Glück, das dem Menschen gegeben ist.
Hätt' ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge
wählte, daß es so nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus,
das nun alle meine Wünsche einschließt, auf meinen weiten Wanderungen,
bald vom Berge, bald von der Ebne über den Fluß gesehn!
Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, über die Begier im
Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen,
herumzuschweifen; und dann wieder über den inneren Trieb, sich der
Einschränkung willig zu ergeben, in dem Gleise der Gewohnheit so
hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu bekümmern.
Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal
schaute, wie es mich rings umher anzog.--dort das Wäldchen!--ach
könntest du dich in seine Schatten mischen!--dort die Spitze des
Berges!--ach könntest du von da die weite Gegend überschauen!--die in
einander geketteten Hügel und vertraulichen Täler!--o könnte ich mich
in ihnen verlieren!--ich eilte hin, und kehrte zurück, und hatte nicht
gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft!
Ein großes dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung
verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! Unser
ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen, großen,
herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen.--und ach! Wenn wir hinzueilen,
wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen
in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele
lechzt nach entschlüpftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem
Vaterlande und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in
dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die
Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.
Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem
Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflücke,
mich hinsetze, sie abfädne und dazwischen in meinem Homer lese; wenn
ich in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir Butter aussteche,
Schoten ans Feuer stelle, zudecke und mich dazusetze, sie manchmal
umzuschütteln: da fühl' ich so lebhaft, wie die übermütigen Freier der
Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist
nichts, das mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte als
die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne
Affektation in meine Lebensart verweben kann.
Wie wohl ist mir's, daß mein Herz die simple, harmlose Wonne des
Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das
er selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein, sondern all die
guten Tage, den schönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen
Abende, da er ihn begoß, und da er an dem fortschreitenden Wachstum
seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke wieder mitgenießt.
Am 29. Junius
Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann und
fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir
herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein
großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr
dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten
legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der
Würde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich
ließ mich aber in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen
abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie
zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und
beklagte, des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der
Werther verderbe sie nun völlig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der
Erde. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller
Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden;
wenn ich in dem Eigensinne künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des
Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, über die
Gefahren der Welt hinzuschlüpfen, erblicke, alles so unverdorben, so
ganz!--immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers
der Menschen:"wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen!" und nun,
mein Bester, sie, die unseresgleichen sind, die wir als unsere Muster
ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen
Willen haben!--haben wir denn keinen? Und wo liegt das
Vorrecht?--weil wir älter sind und gescheiter!--guter Gott von deinem
Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und
an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange
verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht--das ist auch
was Altes!--und bilden ihre Kinder nach sich und--Adieu, Wilhelm! Ich
mag darüber nicht weiter radotieren.
Am 1. Julius
Was Lotte einem Kranken sein muß, fühl' ich an meinem eigenen Herzen,
das übler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet.
Sie wird einige Tage in der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau
zubringen, die sich nach der Aussage der Ärzte ihrem Ende naht und in
diesen letzten Augenblicken Lotten um sich haben will. Ich war vorige
Woche mir ihr, den Pfarrer von St. zu besuchen; ein Örtchen, das eine
Stunde seitwärts im Gebirge liegt. Wir kamen gegen vier dahin. Lotte
hatte ihre zweite Schwester mitgenommen. Als wir in den mit zwei
hohen Nußbäumen überschatteten Pfarrhof traten, saß der gute alte Mann
auf einer Bank vor der Haustür, und da er Lotten sah, ward er wie neu
belebt, vergaß seinen Knotenstock und wagte sich auf, ihr entgegen.
Sie lief hin zu ihm, nötigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich
zu ihm setzte, brachte viele Grüße von ihrem Vater, herzte seinen
garstigen, schmutzigen jüngsten Buben, das Quakelchen seines Alters.
Du hättest sie sehen sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie
ihre Stimme erhob, um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden,
wie sie ihm von jungen, robusten Leuten erzählte, die unvermutet
gestorben wären, von der Vortrefflichkeit des Karlsbades, und wie sie
seinen Entschluß lobte, künftigen Sommer hinzugehen, wie sie fand, daß
er viel besser aussähe, viel munterer sei als das letztemal, da sie
ihn gesehn.--ich hatte indes der Frau Pfarrerin meine Höflichkeiten
gemacht. Der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht umhin konnte,
die schönen Nußbäume zu loben, die uns so lieblich beschatteten, fing
er an, uns, wiewohl mit einiger Beschwerlichkeit, die Geschichte davon
zu geben.--"den alten", sagte er,"wissen wir nicht, wer den gepflanzt
hat; einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der jüngere aber dort
hinten ist so alt als meine Frau, im Oktober funfzig Jahr. Ihr Vater
pflanzte ihn des Morgens, als sie gegen Abend geboren wurde. Er war
mein Vorfahr im Amt, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen;
mir ist er's gewiß nicht weniger. Meine Frau saß darunter auf einem
Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig Jahren als ein armer
Student zum erstenmale hier in den Hof kam".--Lotte fragte nach seiner
Tochter; es hieß, sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese hinaus zu
den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzählung fort: wie sein
Vorfahr ihn liebgewonnen und die Tochter dazu, und wie er erst sein
Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte war nicht
lange zu Ende, als die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn
Schmidt durch den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit
herzlicher Wärme, und ich muß sagen, sie gefiel mir nicht übel; eine
rasche, wohlgewachsene Brünette, die einen die kurze Zeit über auf dem
Lande wohl unterhalten hätte. Ihr Liebhaber (denn als solchen stellte
sich Herr Schmidt gleich dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der
sich nicht in unsere Gespräche mischen wollte, ob ihn gleich Lotte
immer hereinzog. Was mich am meisten betrübte, war, daß ich an seinen
Gesichtszügen zu bemerken schien, es sei mehr Eigensinn und übler
Humor als Eingeschränktheit des Verstandes, der ihn sich mitzuteilen
hinderte. In der Folge ward dies leider nur zu deutlich; denn als
Friederike beim Spazierengehen mit Lotten und gelegentlich auch mit
mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies einer bräunlichen
Farbe war, so sichtlich verdunkelt, daß es Zeit war, daß Lotte mich
beim Ärmel zupfte und mir zu verstehn gab, daß ich mit Friederiken zu
artig getan. Nun verdrießt mich nichts mehr, als wenn die Menschen
einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Blüte des Lebens,
da sie am offensten für alle Freuden sein könnten, einander die paar
guten Tage mit Fratzen verderben und nur erst zu spät das
Unersetzliche ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das, und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurückkehrten
und an einem Tische Milch aßen und das Gespräch auf Freude und Leid
der Welt sich wendete, den Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen
die üble Laune zu reden.--"wir Menschen beklagen uns oft", fing ich an,
"daß der guten Tage so wenig sind und der schlimmen so viel, und, wie
mich dünkt, meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz hätten,
das Gute zu genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden
alsdann auch Kraft genug haben, das Übel zu tragen, wenn es kommt".
--"Wir haben aber unser Gemüt nicht in unserer Gewalt", versetzte die
Pfarrerin, "wie viel hängt vom Körper ab! Wenn einem nicht wohl ist,
ist's einem überall nicht recht".--Ich gestand ihr das ein.--"Wir
wollen es also", fuhr ich fort,"als eine Krankheit ansehen und fragen,
ob dafür kein Mittel ist?"--"Das läßt sich hören", sagte Lotte, "ich
glaube wenigstens, daß viel von uns abhängt. Ich weiß es an mir.
Wenn mich etwas neckt und mich verdrießlich machen will, spring' ich
auf und sing' ein paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist's
weg".--"das war's, was ich sagen wollte,"versetzte ich,"es ist mit der
üblen Laune völlig wie mit der Trägheit, denn es ist eine Art von
Trägheit. Unsere Natur hängt sehr dahin, und doch, wenn wir nur
einmal die Kraft haben, uns zu ermannen, geht uns die Arbeit frisch
von der Hand, und wir finden in der Tätigkeit ein wahres Vergnügen".
--Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch wandte mir ein,
daß man nicht Herr über sich selbst sei und am wenigsten über seine
Empfindungen gebieten könne.--"es ist hier die Frage von einer
unangenehmen Empfindung", versetzte ich, "die doch jedermann gerne los
ist; und niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie
versucht hat. Gewiß, wer krank ist, wird bei allen Ärzten herumfragen,
und die größten Resignationen, die bittersten Arzeneien wird er nicht
abweisen, um seine gewünschte Gesundheit zu erhalten".--ich bemerkte,
daß der ehrliche Alte sein Gehör anstrengte, um an unserm Diskurse
teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn
wandte". Man predigt gegen so viele Laster", sagte ich, "ich habe
noch nie gehört, daß man gegen die üble Laune vom Predigtstuhle
gearbeitet hätte.--"Das müßten die Stadtpfarrer tun", sagte er, "die
Bauern haben keinen bösen Humor; doch könnte es auch zuweilen nicht
schaden, es wäre eine Lektion für seine Frau wenigstens und für den
Herrn Amtmann".--Die Gesellschaft lachte, und er herzlich mit, bis er
in einen Husten verfiel, der unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach;
darauf denn der junge Mensch wieder das Wort nahm: "Sie nannten den
bösen Humor ein Laster; mich deucht, das ist übertrieben".--"Mit
nichten", gab ich zur Antwort, "wenn das, womit man sich selbst und
seinem Nächsten schadet, diesen Namen verdient. Ist es nicht genug,
daß wir einander nicht glücklich machen können, müssen wir auch noch
einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal
selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den Menschen, der übler
Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu tragen,
ohne die Freude um sich her zu zerstören! Oder ist sie nicht vielmehr
ein innerer Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein Mißfallen an
uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine
törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen glückliche Menschen,
die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich".--Lotte
lächelte mich an, da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und
eine Träne in Friederikens Auge spornte mich fortzufahren.--"Wehe
denen", sagte ich, "die sich der Gewalt bedienen, die sie über ein
Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst
hervorkeimen. Alle Geschenke, alle Gefälligkeiten der Welt ersetzen
nicht einen Augenblick Vergnügen an sich selbst, den uns eine
neidische Unbehaglichkeit unsers Tyrannen vergällt hat".
Mein ganzes Herz war voll in diesem Augenblicke; die Erinnerung so
manches Vergangenen drängte sich an meine Seele, und die Tränen kamen
mir in die Augen.
"Wer sich das nur täglich sagte",rief ich aus,"du vermagst nichts auf
deine Freunde, als ihnen ihre Freuden zu lassen und ihr Glück zu
vermehren, indem du es mit ihnen genießest. Vermagst du, wenn ihre
innere Seele von einer ängstigenden Leidenschaft gequält, vom Kummer
zerrüttet ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?
Und wenn die letzte, bangste Krankheit dann über das Geschöpf herfällt,
das du in blühenden Tagen untergraben hast, und sie nun daliegt in
dem erbärmlichsten Ermatten, das Auge gefühllos gen Himmel sieht, der
Todesschweiß auf der blassen Stirne abwechselt, und du vor dem Bette
stehst wie ein Verdammter, in dem innigsten Gefühl, daß du nichts
vermagst mit deinem ganzen Vermögen, und die Angst dich inwendig
krampft, daß du alles hingeben möchtest, dem untergehenden Geschöpfe
einen Tropfen Stärkung, einen Funken Mut einflößen zu können".